Zwischenfall im Hürtgenwald

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Zwischenfall im Hürtgenwald - kürzere Version

Am Heiligen Abend 1944, mitten in der Ardennenschlacht, hatten Mutter und ich unerwartete Gäste.

Als es an diesem Weihnachtsabend an der Tür klopfte, ahnten Mutter und ich nichts von dem Wunder, das wir erleben sollten. Ich war damals zwölf, und wir lebten in einem kleinen Häuschen in den Ardennen, nahe der deutsch - belgischen Grenze. Vater hatte das Häuschen vor dem Krieg benützt, wenn er an Wochenenden auf die Jagd ging; und als unsere Heimatstadt Aachen immer stärker unter Luftangriffen zu leiden hatte, schickte er uns dorthin. Ihn selbst hatte man in der sechs Kilometer entfernten Grenzstadt Monschau zum Luftschutzdienst eingezogen.

»In den Wäldern seid Ihr sicher«, hatte er zu mir gesagt. »Pass gut auf Mutter auf. Du bis jetzt ein Mann.«

Aber vor einer Woche hatte Generalfeldmarschall von Rundstedt mit der letzten, verzweifelten deutschen Offensive dieses Krieges begonnen, und während ich jetzt zur Tür ging, tobte ringsum die Ardennenschlacht.

Als es klopfte, blies Mutter rasch die Kerzen aus. Dann ging sie vor mir zur Tür und stieß sie auf. Draußen standen, vor dem gespenstischen Hintergrund der verschneiten Bäume, zwei Männer mit Stahlhelmen. Der eine redete Mutter in einer Sprache an, die wir nicht verstanden, und zeigte dabei auf einen dritten, der im Schnee lag. Sie begriff schneller als ich, dass es sich um Amerikaner handelte. Feinde!

Mutter stand, die Hand auf meiner Schulter, schweigend da, unfähig, sich zu bewegen. Die Männer waren bewaffnet und hätten sich den Eintritt erzwingen können, aber sie rührten sich nicht und baten nur mit den Augen. Der Verwundete schien mehr tot als lebendig. »Kommt rein«, sagte Mutter schließlich. Die Soldaten trugen ihren Kameraden ins Haus und legten ihn auf mein Bett. Keiner von ihnen sprach Deutsch.

Mutter versuchte es mit Französisch, und in dieser Sprache konnte sich einer der Männer einigermaßen verständigen. Bevor Mutter sich des Verwundeten annahm, sagte sie zu mir: »Die Finger der beiden sind ganz steif. Zieh ihnen die Jacken und die Stiefel aus und bring einen Eimer Schnee herein.« Kurz darauf rieb ich ihnen die blaugefrorenen Füße mit Schnee ab. Der Untersetzte, Dunkelhaarige, erfuhren wir, war Jim. Sein Freund, groß und schlank, hieß Robin. Harry, der Verwundete, schlief jetzt auf meinem Bett, mit einem Gesicht so weiß wie draußen der Schnee. Sie hatten ihre Einheit verloren und irrten seit drei Tagen im Wald umher, auf der Suche nach den Amerikanern, auf der Hut vor den Deutschen. Sie waren unrasiert, sahen aber, ohne ihre schweren Mäntel, trotzdem aus wie große Jungen. Und so behandelte Mutter sie auch.

»Geh, hol Hermann«, sagte Mutter zu mir. »Und bring Kartoffeln mit.«

Das war eine einschneidende Änderung in unserem Weihnachtsprogramm. Hermann war ein fetter Hahn (benannt nach Hermann Göring, für den Mutter nicht viel übrig hatte), den wir seit Wochen mästeten, in der Hoffnung, Vater werde Weihnachten zu Haus sein. Und als es uns vor einigen Stunden klargeworden war, dass er nicht kommen würde, hatte Mutter gemeint, Hermann solle noch ein paar Tage am Leben bleiben, für den Fall, dass Vater zu Neujahr kam. Nun hatte sie sich wieder anders besonnen. Hermann sollte jetzt gleich eine dringende Aufgabe erfüllen.

Während Jim und ich in der Küche halfen, kümmerte sich Robin um Harry, der einen Schuss in den Oberschenkel abbekommen hatte und fast verblutet war. Mutter riss ein Laken in Streifen zum Verbinden der Wunde.

Bald zog der verlockende Duft von gebratenem Hahn durch das Zimmer. Ich deckte gerade den Tisch, als es wieder klopfte. In der Erwartung, noch mehr verirrte Amerikaner zu sehen, öffnete ich ohne Zögern die Tür. Draußen standen 4 Männer in Uniformen, die mir nach fünf Jahren Krieg wohlvertraut waren: deutsche Soldaten - unsere!

Ich war vor Schreck wie gelähmt. Trotz meiner Jugend kannte ich das Gesetz: Wer feindliche Soldaten beherbergt, begeht Landesverrat. Wir konnten alle erschossen werden! Mutter hatte auch Angst. Ihr Gesicht war weiß, aber sie trat hinaus und sagte ruhig: »Fröhliche Weihnachten!« Die Soldaten wünschten ihr ebenfalls eine frohe Weihnacht.

»Wir haben unsere Einheit verloren und möchten gern bis Tagesanbruch warten«, erklärte der Anführer, ein Unteroffizier. »Können wir bei Ihnen bleiben?« »Natürlich«, erwiderte Mutter mit der Ruhe der Verzweiflung. »Sie können auch eine gute, warme Mahlzeit haben und essen, solange etwas da ist«

Die Soldaten lächelten, vergnügt den Duft schnuppernd, der ihnen durch die halboffene Tür entgegenschlug. »Aber«, fuhr Mutter energisch fort, »wir haben noch drei Gäste hier, die Sie vielleicht nicht als Freunde ansehen werden.« Ihre Stimme war mit einem mal so streng, wie ich sie noch nie gehört hatte. »Heute ist Heiliger Abend, und hier wird nicht geschossen.«

»Wer ist drin?«, fragte der Unteroffizier barsch, »Amerikaner?»

Mutter sah jedem einzelnen in das frosterstarrte Gesicht »Hört mal«, sagte sie langsam. »Ihr könntet meine Söhne sein, und die da drin auch. Einer von ihnen ist verwundet und ringt um sein Leben. Und seine beiden Kameraden: verirrt und hungrig und müde wie Ihr. In dieser Nacht«, sie sprach jetzt zu dem Unteroffizier und hob die Stimme, »in dieser Heiligen Nacht denken wir nicht an Töten!«

Der Unteroffizier starrte sie an. Für zwei, drei endlose Sekunden herrschte Schweigen. Dann machte Mutter der Ungewissheit ein Ende. »Genug geredet!« sagte sie und klatschte in die Hände. »Legen Sie Ihre Waffen da auf das Holz - und machen Sie schnell, sonst essen die anderen alles auf.«

Die vier Soldaten legten wie benommen ihre Waffen auf die Kiste mit Feuerholz im Gang: zwei Pistolen, drei Karabiner, ein leichtes MG und zwei Panzerfäuste. Mutter sprach indessen hastig mit Jim auf Französisch. Er sagte etwas auf Englisch, und ich sah verwundert, wie auch die Amerikaner Mutter ihre Waffen gaben.

Als nun die Deutschen und die Amerikaner Schulter an Schulter verlegen in der kleinen Stube standen, war Mutter in ihrem Element. Lächelnd suchte sie für jeden einen Sitzplatz. Wir hatten nur drei Stühle, aber Mutters Bett war groß. Dorthin setzte sie zwei der später Gekommenen neben Jim und Robin.

Dann machte sie sich, ohne von der gespannten Atmosphäre Notiz zu nehmen, wieder ans Kochen. Aber Hermann wurde ja nun nicht mehr größer, und wir hatten vier Esser mehr. »Rasch«, flüsterte sie mir zu, »hole noch ein paar Kartoffeln und etwas Haferflocken. Die Jungen haben Hunger, und wenn einem der Magen knurrt, ist man reizbar.«

Während ich die Vorratskammer plünderte, hörte ich Harry stöhnen. Als ich zurückkam, hatte einer der Deutschen eine Brille aufgesetzt und beugte sich über die Wunde des Amerikaners. »Sind Sie Sanitäter?« fragte Mutter. »Nein«, erwiderte er, »aber ich habe bis vor wenigen Monaten in Heidelberg Medizin studiert.« Dann erklärte er den Amerikanern in, wie mir schien, recht fließendem Englisch, Harrys Wunde sei Dank der Kälte nicht infiziert. »Er hat nur sehr viel Blut verloren«, sagte er zu Mutter. »Er braucht jetzt einfach Ruhe und kräftiges Essen.«

Der Druck begann zu weichen. Selbst mir kamen die Soldaten, als sie so nebeneinander saßen, alle noch sehr jung vor. Heinz und Willi, beide aus Köln, waren sechzehn. Der Unteroffizier war mit seinen Dreiundzwanzig der älteste. Er brachte aus seinem Brotbeutel eine Flasche Rotwein zum Vorschein, und Heinz fand einen Laib Schwarzbrot, den Mutter in Scheiben schnitt. Sie sollten zum Essen auf den Tisch kommen. Von dem Wein aber stellte sie einen Rest beiseite. »Für den Verwundeten.«

Dann sprach Mutter das Tischgebet. Ich sah, dass sie Tränen in den Augen hatte, als sie die vertrauten Worte sprach: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast ...« Und als ich mich in der Tischrunde umsah, waren auch die Augen der kriegsmüden Soldaten feucht. Sie waren wieder Buben, die einen aus Amerika, die anderen aus Deutschland, alle fern von zu Haus. Gegen Mitternacht ging Mutter zur Tür und forderte uns auf, mitzukommen und den Stern von Bethlehem anzusehen. Bis auf Harry, der friedlich schlief, standen wir alle neben ihr, und für jeden war in diesem Augenblick der Stille und im Anblick des Sirius, des hellsten Sterns am Himmel, der Krieg sehr fern und fast vergessen.

Unser privater Waffenstillstand hielt auch am nächsten Morgen an. Harry erwachte, verschlafen brummelnd, in den letzten Nachtstunden, und Mutter flößte ihm etwas Brühe ein. Bei Tagesanbruch war er dann sichtlich kräftiger. Mutter quirlte ihm aus unserem einzigen Ei, dem Rest Rotwein und etwas Zucker einen stärkenden Trunk. Wir anderen aßen Haferflocken. Dann wurde aus zwei Stöcken und Mutters bestem Tischtuch eine Tragbahre für Harry gemacht.

Der Unteroffizier zeigte den Amerikanern, über Jims Karte gebeugt, wie sie zu ihrer Truppe zurückfinden konnten. In diesem Stadium des Bewegungskrieges erwiesen sich die Deutschen als überraschend gut informiert. Er legte den Finger auf einen Bach.

»Da geht Ihr lang«, sagte er. »Am Oberlauf trefft Ihr auf die 1. Armee, die sich dort neu formiert.« Der Mediziner übersetzte alles ins Englische. »Weshalb nicht nach Monschau?« fragte Jim. »Um Himmels willen, nein!« rief der Unteroffizier. »Monschau haben wir wieder genommen.«

Mutter gab nun allen ihre Waffen zurück. »Seid vorsichtig, Jungens«, sagte sie. »Ich wünsche mir, dass Ihr eines Tages dahin zurückkehrt, wo Ihr hingehört, nach Hause. Gott beschütze euch alle!« Die Deutschen und die Amerikaner gaben einander die Hand, und wir sahen ihnen nach, bis sie in entgegengesetzter Richtung verschwunden waren. Als ich wieder ins Haus trat, hatte Mutter die alte Familienbibel hervorgeholt. Ich sah ihr über die Schulter. Das Buch war bei der Weihnachtsgeschichte aufgeschlagen, bei dem Bericht von der Geburt in der Krippe und den drei Weisen, die von weither kamen, um ihre Geschenke darzubringen. Ihr Finger glitt über die Zeile: »... und sie zogen über einen anderen Weg wieder in ihr Land.«[1]

Winternacht in den Ardennen - ausführlichere Version

Lange musste Fritz Finken warten, bis er einen seiner Kriegshelden wiedersah. Er traf Ralph Blank in einem Altenheim in Frederick, USA, zum ersten Mal seit dem Moment, an dem der frühere amerikanische Soldat die Hütte in den Ardennen verließ, um den Weg zurück zu seiner Einheit zu suchen. "Lass mich schauen", sagte Finken, während er einen hawaiianischen Blumenkranz um Blanks Nacken legte. "Dieselben Augen! Wie ist es dir ergangen?" erwiderte Blank. "Du bist kein kleiner Junge mehr."

Ich war zwölf Jahre alt, als wir in einer Aprilnacht 1944 durch einen schweren Bombenangriff auf Aachen obdachlos wurden. Unser Wohnhaus mit der dazugehörenden Bäckerei war nur noch ein rauchender Trümmerhaufen. Zusammen mit meinen Eltern wurde ich nach Neuwied am Rhein evakuiert. Mein Vater, der Bäckermeister Hubert Finken, wurde dort für die nächsten Monate Backstubenleiter beim Obermeister, bis dessen Bäckerei ebenso durch Fliegerschaden ausfiel. Nun drohte meinem Vater, der 48 Jahre alt war, die Einberufung zur Wehrmacht. Doch der Obermeister sorgte dafür, dass er zur Arbeit in einer Heeresbäckerei dienstverpflichtet wurde. Irgendwo im deutsch-belgischen Grenzgebiet der Ardennen wurde das Brot für die mit Schanzarbeiten am Westwall beschäftigten Baukolonnen gebacken. Dorthin wurde Vater abkommandiert.

Die alliierte Invasion rollte durch Frankreich unaufhaltsam ostwärts. Viele glaubten, der Krieg gehe im Herbst zu Ende und planten, sich von der Front überrollen zu lassen. Je früher, desto besser. Kaum jemand fürchtete den westlichen Gegner. So kam mein Vater eines Abends mit einem Kübelwagen der Wehrmacht nach Neuwied, lud meine Mutter Elisabeth und mich auf und brachte uns in einer stundenlangen Nachtfahrt in seine Nähe. Dort hatte er eine Unterkunft für uns vorbereitet. In einer leerstehenden Baracke der Organisation Todt, die einsam und versteckt an einer Lichtung stand, sollten wir die nächsten drei, vier Wochen ausharmen. "Dann haben wir den Krieg hinter uns", sagte Vater voller Optimismus. Leider sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen.

Der Herbst zog sich dahin, die Front versteifte sich und im Dezember wagte Hitler seine Ardennenoffensive. Da waren wir immer noch in unserer Hütte, tief eingeschneit und seit Wochen ohne Verbindung zur Außenwelt. Mein Vater, der uns bis in den November hinein wöchentlich Verpflegung gebracht hatte, kam infolge der Schneewehen nicht mehr zu uns durch. Unsere Hütte hatte zwei verglaste Fenster und einen gemauerten Ofen, auf dem man auch kochen konnte. Holzscheite lagen bereit, Grundnahrungsmittel hatten wir ausreichend. Kartoffeln, Mehl, Nudeln und Haferflocken. Bevor der Schnee fiel, ging ich oft ins Tal zu einer Kartoffelmiete, an der die dort häufigen Wildschweine ein Loch gebuddelt hatten. Dort holte ich in einem Rucksack, so viel und so oft ich nur konnte. In einem verlassenen Gehöft fand ich eine Menge Kerzen und einen einsamen, hungrigen Hahn, der mir wie ein Hündchen folgte. Sein Appetit war enorm, er räumte tüchtig unter unseren Haferflocken auf. Das blieb nicht ohne Folgen, denn mit seinem Gewicht nahm auch die Lautstärke seines Krähens zu und wir fürchteten, dass er auf uns aufmerksam machen könnte. Vor Weihnachten musste Mutter ihn zum Schweigen bringen. Schon seit über einer Woche hörten wir den aus den Tälern zu uns dringenden Kampflärm. Dort unten tat sich etwas und wir fassten neuen Mut. Mutter hoffte, dass Vater gesund in Kriegsgefangenschaft geraten war. Bald sei auch für uns der Krieg vorbei.

Am 24. Dezember schien die Wintersonne an einem wolkenlosen Himmel. Den ganzen Tag über hörten wir das dumpfe Dröhnen alliierter Kampfflugzeuge, die völlig ungestört mit ihrer Bombenlast über uns hinwegzogen. Es war bitterkalt. Mit der Dunkelheit kam die Stille und der Himmel gehörte wieder den Sternen, die über unsere tief verschneite Lichtung funkelten. Mutter, die im spärlichen Licht einer Kerze am Ofen hantierte, sagte vor sich hin: "wenn man nur wüsste, was aus dem Vater geworden ist. Wo mag er jetzt schon sein?" Ich saß im Halbdunkel und wartete ungeduldig auf die Hühnersuppe.

Auf einmal klopfte es an unsere Tür. Erschrocken zuckte ich zusammen und sah, wie Mutter hastig die Kerze ausblies. Dann klopfte es wieder. Wir fassten uns ein Herz und machten auf. Draußen, wie Phantome vor der schneebedeckten Lichtung, standen zwei Männer mit Stahlhelmen. Einer von ihnen sprach zu Mutter in einer Sprache, die wir nicht verstanden, und er zeigte auf einen Dritten, der im Schnee lag. Wir begriffen sofort, dass die Männer amerikanische Soldaten waren. Mutter stand regungslos neben mir. Sie waren bewaffnet und hätten ihr Eintreten erzwingen können, doch sie standen da und fragten mit den Augen. Und der im Schnee sitzende schien mehr tot als lebendig. "Kommt rein", sagte meine Mutter mit einer einladenden Geste. Die Soldaten nahmen ihren Kameraden und streckten ihn auf meinem Strohsack aus. Keiner von ihnen verstand Deutsch. Doch als einer es mit seinem Französisch versuchte, konnte er sich verständlich machen. Er glaubte wohl, wir seien Wallonen. Mutter hatte als Kind in benachbarten Belgien einige Jahre die Schule besucht und dort Französisch gelernt. Während Mutter nach dem Verwundeten sah, half ich den beiden anderen beim Ausziehen ihrer schweren Mäntel. Sie machten einen erschöpften Eindruck. Am Ofen sitzend wich die Kälte von ihnen. Und mit der Wärme stellten sich auch die Lebensgeister wieder ein. Wir erfuhren, dass der stämmige, dunkelhaarige Bursche Jim hieß. Sein Kamerad, größer und schlanker, war Ralph. Harry, der Verwundete, schlief nun auf meinem Bett. Sein Gesicht war so weiß wie Schnee.

Sie waren Versprengte, hatten ihre Einheit verloren und waren seit Tagen im Wald umhergeirrt. Unrasiert wie sie waren, sahen sie ohne ihre schweren Mäntel dennoch eher wie große Jungen aus. Und so wurden sie auch von Mutter versorgt. Geh, bring noch sechs Kartoffeln, rief sie mir zu. Sie hatte eine zweite Kerze angezündet und schnitt die gewaschenen, ungeschälten Erdäpfeln unsere Suppe hinein. Sie zu schälen, galt damals bei uns als Verschwendung. Während Jim und ich Mutter zuschauten, sah Ralph nach Harry. Er hatte viel geblutet. Nun lag er teilnahmslos und still. Mutters Suppe verbreitete schon längst einen einladenden Duft. Ich war gerade dabei, den Tisch zu decken.

Da klopfte es wieder an der Tür. In der Erwartung, dass noch mehr versprengte Amerikaner draußen standen, öffnete ich ohne Zögern. Ja, es waren Soldaten, vier Mann, und alle bis an die Zähne bewaffnet. Ihre Uniform war mir wohl vertraut nach fünf Jahren Krieg. Das waren Soldaten der Wehrmacht, das waren unsere. Ich war vor Schreck wie gelähmt. Obschon ich noch ein Kind war, wusste ich, dass jeder, der den Feind in irgendeiner Weise begünstigt, erschossen wird. Kamen nun alle zu einem furchtbaren Ende?

Mutters Gesicht konnte ich nicht sehen, als sie heraus trat. Doch ihre gefasste Stimme beruhigte mich etwas. "Sie bringen aber eine eisige Kälte mit, meine Herren. Möchten Sie mit uns essen?" entfuhr es ihr. Damit schien sie den richtigen Ton gefunden zu haben. Die Soldaten grüßten freundlich und waren sichtlich froh, im Grenzland zwischen den Fronten Landsleuten zu begegnen. "Dürfen wir uns hier etwas aufwärmen?" fragte der Rangälteste, ein Unteroffizier. "Vielleicht haben Sie irgendwo Platz für uns bis zum Morgen." "Natürlich", antwortete Mutter in aller Herzlichkeit. "Sie können auch eine warme Suppe mit uns essen." Die Deutschen lächelten, als sie das Aroma durch die halb offene Tür rochen. "Doch", fügte Mutter in einem aus schierer Angst erwachsenen Todesmut hinzu, "Es sind bereits drei Durchfrorene hier, um sich etwas aufzuwärmen. Ich bitte Sie um Himmels Willen, machen Sie jetzt bloß keinen Krawall." Der Unteroffizier schien zu begreifen. "Wen haben Sie da drinnen?" verlangte er barsch zu wissen. "Amis?" Mutter sah jeden Einzelnen an. "Hört mal", sagte sie langsam. "Ihr könntet meine Söhne sein und die da drinnen auch. Einer von Ihnen ist verwundet und der ist gar nicht gut dran. Und die beiden anderen sind so hungrig und müde wie ihr. Es ist Heiligabend." Sie sprach jetzt zu dem Unteroffizier. "Und hier wird nicht geschossen." Der starrte sie an.

Für zwei, drei endlose Sekunden hörte man nur den Wind. Ich stand da und bibberte. Doch Mutter nutzte den Moment. "Genug geredet", sagte sie entschlossen. "Legt das Schießzeug da auf das Holz und kommt schnell rein. Sonst essen die anderen alles auf." "Tut, was sie sagt", knurrte der Unteroffizier. "Wir haben Hunger." Wortlos legten sie ihre Waffen in den winzigen Schuppen, in dem wir unsere Holzscheite aufbewahrten. Es waren drei Karabiner, zwei Pistolen, ein leichtes MG und zwei Panzerfäuste. Währenddessen war den Amerikanern nicht verborgen geblieben, dass eine Gruppe Krauts vor der Tür stand. Und mit dem Mut der Verzweiflung waren sie willens, sich zur Wehr zu setzen. Mutter sprach indessen hastig mit Jim auf Französisch. Er sagte etwas zu Ralf und ich sah erleichtert, wie auch die Amerikaner mit sich reden ließen. Sie machten mit.

Als nun alle in der kleinen Stube waren, schienen sie etwas ratlos zu sein. Wie man sich als Soldat in einer solchen Situation verhält, hatten ihre Ausbilder nicht mit ihnen besprochen. Mutter war währenddessen in ihrem Element. Lächelnd suchte sie für jeden einen Sitzplatz. Wir hatten nur drei Stühle, aber Mutters Bett war groß. Dorthin setzte sie zwei der später gekommenen neben Jim und Ralf. Man schwieg sich an. Es lag eine Gespanntheit in der Luft, die sich auf alle übertrug. Mutter machte sich wieder ans Kochen. Aber unser Hahn wurde nicht größer und wir hatten vier Esser mehr. "Rasch" flüsserte sie mir zu. "Wasch mir noch ein paar Kartoffeln und schneide sie zweimal durch. Und hol noch etwas Haferflocken, wenn wir die Jungen erst einmal satt haben, wird sich alles geben."

Während ich bei unseren Vorräten war, hörte ich Harry laut aufstöhnen. Einer der Deutschen setzte seine Brille auf und beugte sich über die Wunde des Amerikaners. "Sind Sie Sanitäter?" fragte Mutter. "Nein", erwiderte er, "aber ich habe bis vor wenigen Monaten in Heidelberg Medizin studiert." Dann erklärte er den Amerikanern, in wie mir schien recht fließend im Englisch, Harrys Wunde sei dank der Kälte nicht entzündet. "Er hat sehr viel Blut verloren", sagte er zu Mutter. "Er braucht jetzt einfach Ruhe und kräftiges Essen." Die Spannung hatte sich gelöst. Selbst mir kamen die Soldaten, als sie so nebeneinander saßen, alle noch sehr jung vor. Der Unteroffizier war mit seinen 23 Jahren der Älteste. Am linken Ärmel seiner Uniformjacke trug er das Kubanschild, das ihn als Ostfrontkämpfer auswies. Aus seinem Brotbeutel nahm er eine Flasche Rotwein, und ein anderer brachte ein großes Kommissbrot auf den Tisch, das Mutter in Scheiben schnitt. Von dem Wein füllte sie etwas in einen Becher, für Harry. Der Rest wurde unter uns aufgeteilt. Zwei Kerzen flackerten auf dem Tisch, dazwischen stand der Kessel mit der dampfenden Suppe. Auf einem Teller lag das geschnittene Brot, und jeder hatte etwas Wein. Ich hatte zwischen Jim und Ralph Platz gefunden. Am Kopfende saß Mutter auf einer improvisierten Sitzgelegenheit.

Auf sie waren jetzt alle Blicke gerichtet. In meinem Elternhaus war es nicht üblich gewesen, vor dem Essen gemeinsam zu beten. Mit uns am Tisch saßen normalerweise die Gesellen, der Lehrling und die Hausgehilfin. Wer da beten wollte, der tat das still für sich. Das war nun alles anders. Es war eine gehobene, fast feierliche Stimmung, und niemand wäre es eingefallen, sich ohne Weiteres über die Mahlzeit herzumachen. Ralph erfasste die Hände der neben ihm Sitzenden. Jim tat das Gleiche, und schon saßen wir alle nach amerikanischer Sitte, Hände haltend um den Tisch, um unser aller Herrgott zu danken. Mutter sprach für uns in ergreifender Inständigkeit, sie schloss mit den Worten, "... und bitte, mach endlich Schluss mit diesem Krieg." Als ich mich in der Tischrunde umsah, bemerkte ich einige Tränen, die sich den Kriegern aus den Augen stahlen. Niemand schämte sich. Sie alle hatten sich ihre Menschlichkeit bewahrt.

Nun waren sie ganz einfach wieder die jungen Söhne ihrer sich um sie sorgenden Eltern, die einen aus Amerika, die anderen aus Deutschland, alle fern von zu Haus. Nach dem Essen gab es starken amerikanischen Nescafé und Ananaspudding, den Jim in kleinen olivgrünen Dosen aus seiner weiten Manteltasche holte. Dann wurden Zigaretten ausgetauscht, hier Eckstein, dort Cheseterfield. Und schon hatte jeder der Gäste eine im Mund. Doch der um Harry besorgte Medikus sprach ein Machtwort: "Get out an die frische Luft!" Draußen war eine vor Kälte klirrende, strahlende Winternacht. Der Himmel war mit Sternen übersät, und Mutter forderte uns auf, den am hellsten Leuchtenden, den Sirius, anzusehen. "Das ist unser Stern von Bethlehem, der kündigt den Frieden an."

Niemand sprach ein Wort. Aus der Ferne drang das dumpfe Bollern schwerer Artillerie an unsere Ohren. Dennoch schien uns jetzt der Krieg sehr weit und fast vergessen. Dann gingen wir schlafen, die Soldaten auf dem Fußboden, auf ihren dicken Mänteln. Ich fand in Mutters Bett noch Platz.

Harry erwachte im Morgengrauen, und Mutter flößte ihm etwas ein. Sie hatte aus amerikanischem Eipulver, dem Rest Rotwein und viel Zucker einen Kraftdrunk gequirlt, der es in sich hatte. Ob es auch schmackhaft war, erfuhr ich nie, doch Harry war bei Tagesanbruch sichtlich kräftiger. Zum Frühstück aß er mit uns anderen den Rest der Hühnersuppe. Dann wurde aus zwei starken Stöcken und einer deutschen Zeltbahn eine Trage für Harry gemacht.

Der Unteroffizier zeigte Jim und Ralph auf einer Karte den Weg zu den amerikanischen Linien. Ein deutscher Kompass wechselte den Besitzer. "Passt auf, wo ihr geht. Viele Wege sind vermint. Und wenn ihr eure Jabos kommen hört, winkt wie der Teufel." Der Mediziner übersetzte alles ins Englische. Dann bewaffneten sie sich wieder, und es folgte der Abschied. Herzlicher konnte es auch unter alten Freunden nicht sein. Sie umarmten sich fröhlich, man versprach, sich wieder zu sehen. "As soon as this damned war is over." Jim und Ralph küssten Mutters Wangen. Harry wurde auf seine Sänfte gesetzt, und mit Hallo, aber auch mit etwas Wehmut trennten sich unsere Wege. Manchmal drehten sie sich um und winkten. Wir schauten ihnen nach, bis sie im Wald verschwunden waren. "Das sind Menschen genau wie wir", sagte der Unoffizier halblaut.

Jene Nacht in den Ardennen vergaß ich nie. Oftmals, wenn ich am winterlichen Himmel den hellglitzenden Sirius erblicke, scheint er mich zu grüßen wie einen alten Freund. Unwillkürlich gedenke ich dann meiner Mutter und jener jungen Soldaten, die als Feinde zusammentrafen und als Kameraden auseinandergehen. 1959 verließ Fritz Finken Deutschland. 1964 schrieb er seine Erinnerungen an das unvergessliche Weihnachtsfest 1944 nieder. Sein Wunsch, alle Beteiligten wieder zusammenzubringen, hat sich leider nicht erfüllt. Seine Mutter starb 1966. Nach den deutschen Soldaten suchte er vergeblich. Vermutlich sind sie in den letzten Kriegsmonaten gefallen.

Doch durch einen glücklichen Zufall fand er wenigstens Ralf wieder. Er besaß noch den deutschen Wehrmachtskompass. Monate später wurde auch Jim, damals 76, in Ohio gefunden. Harry, der damals verwundete, war bereits 1972 gestorben. Auch Ralf ist mittlerweile tot. Es leben heute nur noch zwei Menschen, die von diesem Wunder des Friedens mitten im Krieg berichten können. Fritz Finken war viele Jahre lang Mitglied des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.[2]

Film

Von dieser Geschichte gibt auch einen Spielfilm: Stille Nacht – Das Weihnachtswunder

Einzelnachweise

  1. Fritz Vincken: Zwischenfall im Hürtgenwald. In: Reader's Digest. Verlag Das Beste GmbH
  2. Mittels Whisper von der MP3 Aufnahmne Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.: Winternacht in den Ardennen nach Text konvertiert.